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Ich habe mich aus meinem ausgesperrt

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Frei sein will jeder. Aber im Job bevorzugen die meisten doch lieber die Abhängigkeit. Unser Autor hat im Sommer 2019 gekündigt und sich selbstständig gemacht. Was kostet ihn die Unabhängigkeit? Arrow Down

Ich erinnere mich noch gut an den Tag, an dem ich es meinem Chef gesagt habe. Draußen lachte die Junisonne, drinnen lächelte ich. Es war ein gutes Gefühl. Und überhaupt kein langes Gespräch, eher eine Klarstellung: Nein, ich will keinen anderen Job im Unternehmen. Ja, ich habe es mir gut überlegt. Doch, ich will wirklich so schnell wie möglich gehen. Nicht zur Konkurrenz, auch nicht nach Südamerika. Sondern in die Selbstständigkeit.

Und der unbefristete Vertrag? Das 65.000-Euro-Jahresgehalt? Die Karriere? Für mich keine vielversprechende Perspektive mehr, sondern Vergangenheit. Meine Zukunft sollte eine Reise werden, von der ich keine Ahnung hatte, wo sie mich hinführte – und ob ich irgendwann irgendwo ankommen würde. Aber das war nicht wichtig. Entscheidend war, diesen Weg überhaupt einzuschlagen: den Weg in die Unabhängigkeit.

Rund 45 Millionen Menschen in Deutschland sind erwerbstätig, aber nicht einmal jeder Zehnte davon ist selbstständig. Dabei klingt es doch so verheißungsvoll: „Sie ist jetzt ihre eigene Chefin.“ Und so verlockend: „Wer richtig reich werden will, muss sich selbstständig machen.“ Und irgendwie auch verwegen: „Er macht jetzt sein eigenes Ding.“ TV-Shows wie „Die Höhle der Löwen“ oder „Das Ding des Jahres“ zeigen einem Millionenpublikum, wie aufregend und sexy ein eigenes Unternehmen sein kann. Und trotzdem unternehmen nur die wenigsten etwas, um ihre berufliche Sicherheit gegen unternehmerische Unabhängigkeit einzutauschen. Aber mal ehrlich: Wer könnte es ihnen verdenken? Die meisten meiner Freunde sind angestellt und schätzen an ihrer Arbeit – unabhängig von der Tätigkeit – die Tatsache, dass sie ihnen ein geregeltes Leben ermöglicht: 40-Stunden-Woche, 30 Tage Urlaub, eine Handvoll netter Kollegen und das gute Gefühl, am Freitagnachmittag die Arbeit Arbeit sein zu lassen und das freie Wochenende zu genießen.

Wir Menschen sind Gewohnheitstiere, unser natürlicher Lebensraum ist der goldene Käfig. Ich habe mich aus meinem ausgesperrt – aus vier Gründen. Um den ersten und wichtigsten zu verstehen, braucht es eine kurze Vorstellung: Ich heiße Max, bin Anfang 30 und Journalist. Nach meinem BWL-Master in Mannheim ging ich 2014 als Volontär zum Handelsblatt und kündigte im Sommer 2019 als Redaktionsleiter von Orange, der jungen journalistischen Marke des Verlagshauses.

Am Beruf des Journalisten hat mich immer fasziniert, dass man neue Orte, weltbewegende Veränderungen und spannende Persönlichkeiten aus nächster Nähe kennenlernt. Dann erzählt man davon und wird dafür auch noch bezahlt. Was kann es Schöneres geben? Reporter arbeiten schnell, kreativ und in hohem Maße eigenverantwortlich.

Wer aber eine Redaktion mit vier festen und mehr als einem Dutzend freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern leitet und mehr Meetings als Interviews führt, hat mit diesem Spiel ungefähr noch so viel zu tun wie ein Trainer mit einem Fußballspiel. Nach mehr als zwei Jahren auf dieser Position war mir klar: Ich will zurück auf den Platz. Dafür hätte ich meinen Job nicht kündigen müssen, schließlich lockte mich mein Chef mit der Aussicht auf eine Korrespondentenstelle im Ausland. Aber es kam noch ein zweiter Grund hinzu.

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Schon Jahre zuvor hatte ich überlegt, was Eigenes zu machen. Zum Glück machte ich es nicht, denn weder die Idee noch meine Persönlichkeit waren reif dafür. Doch der Gedanke ließ mich nicht los, ich schaute weiter auf das Mediengeschäft und überlegte, wo es eine Nische geben könnte. Vor etwa einem Jahr sah ich sie: Junge Menschen brauchen fundiert recherchierte und unterhaltsam präsentierte Informationen rund um Wirtschaftsthemen, damit sie bessere Entscheidungen für eine erfolgreiche Zukunft treffen können. Einerseits. Andererseits brauchen Unternehmen neue Talente, um auch in Zukunft erfolgreich zu sein. Was wäre, wenn man beide Bedürfnisse mit einem Geschäftsmodell zusammenbringen würde? Zuerst mit journalistischen Inhalten auf sozialen Netzwerken wie Youtube und Instagram eine Gemeinschaft aufbauen und Reichweite schaffen – und dann Firmen anbieten, in dieser spitzen Zielgruppe als Sponsor aufzutreten, um das Employer Branding zu verbessern.

Der Wille zur Veränderung war also da, die Chance auch. Was noch fehlte? Die Initialzündung: Grund Nummer drei. Als eine Sparwelle sämtliche Redaktionen im Verlag zwang, Kosten zu sparen, sollte auch unser Team stark gestutzt werden. Ich erfuhr die Entscheidung nach einem dreiwöchigen Urlaub bei einem Termin, der den unschuldigen Betreff „Next Steps“ trug. Eigentlich wollten wir unserem Chef darin eine neue Wachstumsstrategie vorstellen, alles war vorbereitet. Doch wir kamen gar nicht dazu, den Laptop aufzumachen – stattdessen wurden wir vor vollendete Tatsachen gestellt.

Mich überfiel eine Lethargie, wie ich sie nur von dem unfreiwilligen Ende einer Liebesbeziehung kannte. Es dauerte Tage, bis ich wieder professionell arbeiten und klar denken konnte. Nach ein bis zwei Wochen wich dem Frust ein fester Entschluss: Ich mach’s.

Es war keine spontane Hals-über-Kopf-Entscheidung, aber andere hätten womöglich länger darüber nachgedacht. Mir half es, laut zu denken. Meine Frau, meine Familie, meine Freunde – sie alle bekamen von mir die gleichen Fragen gestellt: Mögt ihr meine Idee? Traut ihr mir das zu? Ist jetzt der richtige Zeitpunkt? Ja. Ja? Ja! Entscheidend war am Ende noch eine persönliche Sache – der letzte von vier Gründen: Ich hatte wenig bis gar nichts zu verlieren.

Beim Schritt in die Selbstständigkeit ist es so ähnlich wie bei der Kinderplanung: Den perfekten Zeitpunkt gibt es nicht. Aber es gibt Lebensabschnitte, die sich eher dafür anbieten. Wer wie ich noch relativ jung ist, mit seiner Partnerin in einer Zweizimmerwohnung lebt und nicht einmal ein Auto besitzt, hat mehr Entscheidungsfreiheit als jemand, der sich um Familie, Haus und Garten kümmern muss. Wir alle kennen ja die Statistiken, laut denen die Mehrheit der Neugründungen nach wenigen Jahren auf dem Scheiterhaufen landet. Da wäre es doch (größen-) wahnsinnig, zu glauben, dass ausgerechnet die eigene Idee Erfolg hat. Oder?

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Mich hat eine wichtige Erkenntnis im wahrsten Sinne des Wortes befreit: Ja, Scheitern ist eine realistische Option. Aber nein, ich habe keine Angst davor. Ich bin mir sicher: Unabhängig vom Ergebnis meines Projekts werde ich schon auf dem Weg dorthin jede Menge neue Fähigkeiten erlernen und Menschen begegnen, die meinen Horizont erweitern. Man ist nicht selbstständig, man wird es. Und im Vergleich zu diesem bereichernden Prozess erscheinen mir die finanziellen Einbußen verschwindend gering.

Nach meiner Entscheidung schrieb ich einen Businessplan und überzeugte damit die Arbeitsagentur zu einem Gründungszuschuss und das Land NRW zu einem Gründerstipendium. Darin ist die Vision formuliert, unter dem Namen #WasmitWirtschaft binnen fünf Jahren die größte Wirtschaftsplattform für junge Menschen in Deutschland aufzubauen. Und heute? Betreibe ich hauptsächlich den Instagram-Kanal @wasmitwirtschaft, der jungen Menschen zeitgemäßen Wirtschaftsjournalismus vermittelt. Auf meinem Konto geht kein vierstelliges Gehalt mehr ein, sondern neben den Fördermitteln mehrmals im Monat ein mittlerer dreistelliger Betrag. Der Lohn für Moderationen oder Workshops, die ich neben meiner „eigentlichen Arbeit“ mache, um mir ein zweites Standbein aufzubauen – falls das erste gar nicht erst stehen kann.

Meine Arbeitszeit versuche ich auf 50 Stunden zu deckeln, es gelingt nicht immer. Vor allem im Herbst hatte ich mit Schlafproblemen zu kämpfen, weil die Gedanken an mein Projekt omnipräsent waren. Was mir half: eine Routine schaffen, so spießig das klingt. Um acht Uhr loslegen, nicht von zu Hause aus arbeiten, sondern ins Gemeinschaftsbüro gehen, mit den Gleichgesinnten dort um halb eins Mittag machen und abends um 18 Uhr Feierabend.

Wer keine Chefin und kein Team mehr hat, muss ständig selbst entscheiden, was als Nächstes zu tun ist – aus einer unendlichen Fülle an Möglichkeiten. Und wenn man dann nach allerlei Versuch und Irrtum endlich eine Tätigkeit gefunden hat, die sinnvoll erscheint, darf man sich nicht davon beirren lassen, dass der Anfang nicht nur langsam vorangeht, sondern auch lange dauert. Meinem Kanal folgen bisher gut 2.300 Menschen, da ist an Sponsoring noch nicht einmal zu denken. Entscheidend aber ist: durchhalten, sich selbst motivieren, nicht ablenken lassen. Der Preis der Unabhängigkeit wird mit Lehrgeld bezahlt.

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Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, ob meine Idee jemals genügend wirtschaftlichen Erfolg haben wird, um mich und eine Familie zu ernähren – oder irgendwann auch mal ein Team. Aber ich bin überzeugt, dass mich der Versuch für immer bereichern wird. Persönlich wie fachlich. Ein Produkt entwickeln, bei einer Zielgruppe testen und an mögliche Kunden verkaufen, dabei nicht das Marketing vernachlässigen und noch nebenbei das Netzwerk erweitern, um bekannter zu werden: Das alles bedeutet Selbstständigkeit, und es kann einen sehr erfüllen, jede Sekunde des Tages auf eigene Verantwortung zu handeln.

Nach gut sechs Monaten auf dieser Abenteuerreise bin ich mir immer noch nicht sicher, wo sie mich hinführen wird und welche Sackgassen auf dem Weg warten. Aber es fühlt sich immer noch richtig an, und ich werde das Jahr auf jeden Fall durchziehen – allein schon, um es mir selbst zu beweisen. Scheitern wäre nicht schlimm. Aber in diesem besonderen Jahr nicht alles versucht zu haben? Das könnte ich mir nie verzeihen. Nach Weihnachten wird es ein Feedbackgespräch zwischen mir und meinem inneren Chef geben. Vielleicht mit den „Next Steps“ fürs nächste Jahr, vielleicht aber auch mit einer Kündigung und der Rückkehr in die abhängige Beschäftigung. Wie es weitergeht, entscheide allein: ich. Diese Freiheit nehme ich mir.